von Thomas Greif, epd
Eine Gemeinde im Wahlstreik, ein schöngeistiger Dekan, dessen Gedichte um die Welt gehen, ein gescheiterter SPD-Kanzlerkandidat, ein Dekanat, in dem an der Schwelle zum 21. Jahrhundert noch keine Frauen auf Pfarrstellen erwünscht sind: In der Historie des Dekanates Gräfenberg liegen die interessanten Geschichten auf der Straße. Der Nürnberger Ruhestandspfarrer Bernhard Schneider hat sie erschlossen.
Aus seinem Vorhaben, zum 200-jährigen Bestehen des Dekanates eine Jubiläumsschrift zu machen, wurde ein akribisch recherchiertes Handbuch mit über 600 Seiten, das kaum Wünsche offenlässt. Die Verhältnisse in den zwölf Kirchengemeinden zwischen Kunreuth und Kirchrüsselbach (Landkreis Nürnberger Land) kann man ganz oft als exemplarisch für das evangelische Leben auf dem fränkischen Land lesen – herzlich, fromm und kirchentreu, aber mit Schlagseite zu Sturheit und Eigenbrötlerei.
So verweigerte anno 1850 die Gemeinde St. Helena zu Großengsee die Teilnahme an den ersten bayerischen Kirchenvorstandswahlen. „Sowohl die inneren wie äußeren Verhältniße der Kirchengemeinde seyen in völlig geordnetem Zustand“, notierte der unglückliche Dekan Georg Kaspar Adler nach entsprechenden Unterredungen: „Sie hielten die Einführung von Kirchenvorständen daher für überflüßig...“.
Keine Spesen für den Dekan
Auf Geheiß seiner Oberen hatte Adler die renitente Gemeinde per Vortrag über das Wohl der Wahl aufzuklären. Doch die Großengseer boykottierten nicht nur jeden weiteren Wahlversuch, sondern weigerten sich sogar, dem Dekan die veranschlagten drei Gulden Spesen für seine Vortragsreise zu zahlen.
Nach einem dreiviertel Jahr gab das königliche Konsistorium nach und schrieb: „Von der Einführung eines Kirchenvorstandes in St. Helena wurde Umgang genommen.“ Erst 1886 gelang es dem Pfarrvikar Otto Merz, seine Schäflein zur Wahl zu bewegen, an der freilich nur 16 Menschen teilnahmen. Ganz ähnliche Berührungsängste mit innerkirchlicher Demokratie hatte man übrigens im benachbarten Hiltpoltstein.
Das Dekanat Gräfenberg entstand 1811 im Zuge der Neusortierung des bayerischen Staates in der napoleonischen Zeit. Es umfasste wie auch das gleichnamige Landgericht Untertanen von vier vormals selbstständigen Staatswesen. Seit 1951 gehört das oberfränkische Dekanat zum Kirchenkreis Nürnberg.
Unter den Pfarrerpersönlichkeiten aus 200 Jahren sind illustre Gestalten: Etwa Heinrich Riedel in Thuisbrunn, der es in den 1960er Jahren bis zum Vorsitzenden des Diakonischen Rates der EKD brachte, oder Wilhelm Stählin in Egloffstein, später Landesbischof in Oldenburg. Auf andere Weise erlangte 1998 Pfarrer Ulrich Schneider in Neunkirchen am Brand Bekanntheit: Er fuhr allen Ernstes nach Leipzig, um sich von der SPD anstelle von Gerhard Schröder zum Kanzlerkandidaten wählen zu lassen – vergeblich, wie man weiß.
„Da hast du deinen Witschel!“
Und dann wäre noch Johann Heinrich Wilhelm Witschel zu nennen, der seit 1811 als erster Dekan amtierte. Er war ein mäßig begabter, aber überaus erfolgreicher Dichter, dessen Gebetbuch „Morgen- und Abendopfer in Gesängen“ über 100 Jahre lang immer wieder nachgedruckt wurde und zu den meistgelesenen Andachtbüchern im deutschen Sprachraum gehörte.
Als Witschel 1818 als Abgeordneter der zweiten Kammer dem König Max Joseph I. vorgestellt wurde, führte der ihn zu seiner Ehefrau mit den Worten: „Da, Karoline, hast du deinen Witschel!“ Denn auch die evangelische Königin gehörte zu den eifrigen Leserinnen des Gräfenberger Dekans.
Im 20. Jahrhundert war das Gräfenberger Land eine Hochburg der NSDAP – und zwar vor allem vor 1933, auch dank einiger besonders rühriger Pfarrer. Berühmt-berüchtigt innerhalb der Landeskirche war die Gegend allerdings erst in den 1990er Jahren: Weil der damalige Dekan Herbert Steinmann ein Gegner der Frauenordination war, dauerte es bis 1999, bis im Dekanat Anke Bertholdt in Neunkirchen am Brand als erste Frau regulär Pfarrdienst tat. Seit 2007 steht mit Christine Schürmann gar eine Frau dem Pfarrkapitel vor – die Zeiten ändern sich, selbst im Dekanat Gräfenberg.